Knapp daneben - Stories von Why-Not

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Kurzgeschichten
Knapp daneben
Gesichter des Todes (4)

  „Mahlzeit.“
  Werner schaute den Neuankömmling, der sich ihm gegenüber an den Tisch gesetzt hatte, verwundert an. Es war nicht ungewöhnlich, sich in der vollen Kantine an den Tisch eines unbekannten Kollegen zu setzen. Aber dieser Kollege hatte nicht einmal ein Tablett mitgebracht. Überhaupt sah er irgendwie unpassend aus. Sein Anzug hätte eher in einen Sherlock-Holmes-Film als in die Kantine eines Kreditinstituts gepaßt. Ihn als altmodisch zu bezeichnen wäre maßlos untertrieben gewesen.
  „Mahlzeit“, antwortete er schließlich selbst und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem eigenen Essen zu. Nicht, daß die Qualität des Kantinenessens aufmerksamkeitsheischend gewesen wäre. Aber kalt würde es noch weniger schmecken.
  „Ziemlich viel Cholesterin.“
  Konnte ihn sein Gegenüber nicht einfach in Ruhe essen lassen?
  „Die welken Salatblätter vom Buffet wären vielleicht gesünder, aber noch weniger schmackhaft gewesen“, antwortete Werner, ohne lange darüber nachzudenken.
  „Das mag sein. Bei mir ist es schon ziemlich lange her, daß ich so etwas probiert habe.“
  „Salat? Da versäumen Sie hier nicht viel. Das Dressing ist furchtbar.“
  „Nein, ich dachte an Essen allgemein.“
  „Aha.“
  Besonders interessiert war Werner nicht an den Essensgewohnheiten dieses Kollegen – falls es überhaupt ein Kollege war. Irgendwie war er sehr merkwürdig. Nicht nur wegen seiner unpassenden Kleidung.
„Vielleicht hätten Sie den Inhaltsstoffen Ihrer Speisen etwas mehr Aufmerksamkeit widmen sollen. Bei Ihren Herzproblemen ist es ein Fehler, einfach drauf los zu essen.“
Dieser Typ war nicht nur ein Langweiler, er war auch noch ein Wichtigtuer. Werner versuchte, ihn einfach zu ignorieren und sich auf das Essen zu konzentrieren.
  „Ich habe den Eindruck, Sie hören mir gar nicht zu.“
  „Sollte ich das?“, fragte Werner genervt, um sich dem fetten Rindswürstchen zuzuwenden, das sich immer wieder dem Zustechen seiner Gabel entzog.
  „Na ja, die meisten Leute interessieren sich dafür, warum sie sterben.“
Werner schaute ihn verärgert an. Was sollte dieses dumme Geschwätz. Warum konnte dieser Trottel nicht einem anderen Kollegen auf die Nerven gehen?

  Der altmodisch Gekleidete erhob sich und trat auf ihn zu. Verblüfft stellte Werner fest, daß er dadurch mitten im Tisch und halb in seinem Essen stand. Beides erschien dabei durchsichtig und irgendwie substanzlos.
  „Tja, Manfred Meyer“, sagte er mit wichtigtuerischem Geschichtsausdruck, „Sie werden mich jetzt begleiten müssen. Ihr Herz hat den Raubbau, den Sie mit ihrer Gesundheit treiben, nicht überstanden. Ach so, vielleicht hätte ich mich erst einmal vorstellen sollen. Gestatten, Gevatter Tod.“
  Werner wußte nicht, ob er erschreckt oder wütend werden sollte.
  „Das muß eine Verwechslung sein. Ich heiße auch gar nicht Manfred Meyer.“
  „Dann eben Manfred Müller. Das ist doch völlig egal. Müller, Meyer … wen interessiert das denn schon, Manfred.“
  „Erstens heiße ich nicht Manfred Meyer, sondern Werner Petersen. Und zweitens ist mein Herz kerngesund, wie mir erst gestern mein Hausarzt bestätigt hat.“
  Der Andere wurde noch etwas blasser als er ohnehin schon war.
  Er kramte ein Notizbuch aus seinem historischen Anzug, schlug es auf und schaute hinein. Abwechselnd blickte er immer wieder auf Werner und in das Notizbuch.
  „So ein Mist. Dann habe ich ja schon wieder den Falschen erwischt.“
  Einen Moment schaute er Werner unschlüssig an. Dann zuckte er andeutungsweise mit den Schultern und wandte sich wieder an Werner.
  „Tja, da haben Sie dann wohl Pech gehabt. Jedenfalls habe ich weder Zeit noch Lust, jetzt den richtigen Manfred Meyer zu suchen.“
  Werner sah, wie die Hand des Gevatters Tod nach seinem Brustkorb griff. Er wollte zurückweichen, konnte sich aber nicht mehr bewegen. Schlagartig raste sein Herz und eine kalte Furcht erfaßte ihn.

  Die graue Hand hatte ihn schon fast berührt, als sie aus dem Nichts von einer weiteren Hand gepackt wurde. Diese sah noch erschreckender aus. Kurz darauf erschien auch die zugehörige Gestalt. Sie entsprach exakt dem Klischee, das jeder vom Tod hat. Ein Gerippe in schwarzem Umhang, mit einer Sense in der linken Hand. Die rechte schien den Arm des anderen Gleichmachers sehr unsanft zu drücken. Jedenfalls hatte letzterer plötzlich ein schmerzverzerrtes Gesicht.
  „Jetzt habe ich endgültig genug von Ihnen, Sie Versager!“, dröhnte die Stimme des Gerippes in Werners Ohren.
  „Das war der letzte Fehler in Ihrer Probezeit. Sie sind fristlos entlassen.“
  Der Träger des historischen Anzugs wollte protestieren, verblaßte allerdings bereits.
  „Es ist verdammt schwer, heutzutage qualifiziertes Personal zu bekommen“, sinnierte der Sensenmann an Werner gewandt. „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als die ganze Arbeit weiterhin alleine zu machen. Tut mir leid, daß er Sie erschreckt hat. Aber Sie werden das ohnehin gleich wieder vergessen haben.“
  Mit diesen Worten berührte er Werners Stirn und verschwand.

  Irritiert schaute Werner auf seinen halbvollen Teller. Es war erschreckend, wie sehr die Routine ihn im Griff hatte. Er mußte schon die Hälfte dieses Essens heruntergeschlungen haben, erinnerte sich aber nicht an einen einzigen Bissen. Angewidert schaute er auf den Rest des fetten Rindswürstchens. Dieser Fraß würde ihn eines Tages noch umbringen. Er schob den Teller von sich, trank seinen Orangensaft und brachte das Tablett mit den Essensresten zur Geschirrückgabe. Einem kleinen Tumult, der sich hinter ihm ereignete, als er die Kantine verließ, schenkte er keine Aufmerksamkeit. Erst am nächsten Tag hörte er, daß ein gewisser Manfred Meyer plötzlich über seinem Essen zusammengebrochen und auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben war.

© 04/2007 Why-Not

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