Kurzgeschichten
Abschied
Gesichter des Todes (1)
„Guten Abend“, kam es mit leiser, kultivierter Stimme aus der Zimmerecke.
„Wer sind Sie?“, fragte Hermann irritiert.
„Und was machen Sie in meinem Zimmer“, setzte er deutlich aggressiver hinterher.
„Du erwartest mich doch schon seit einiger Zeit.“
Wieder war die Stimme des anderen leise, ja fast schon sanft.
„Ich erwarte niemanden!“
„Zu deinem Kompagnon hast du vorhin aber etwas anderes gesagt.“
„Wieso reden Sie mich eigentlich mit ‚Du’ an? Ich kann mich nicht erinnern, mit Ihnen gemeinsam in der Gosse gelegen zu haben. Und zu meinem Kompagnon habe ich gesagt, daß ich niemanden mehr erwarte ...“
„... niemanden, außer dem Tod“, vervollständigte der unheimliche Besucher das Zitat.
Hermann wurde blaß und schaute ihn unsicher an.
„Erzählen Sie doch keinen Blödsinn“, brauste er auf. In seiner Stimme lag allerdings eher Unsicherheit als Entrüstung. „Den Tod gibt es doch gar nicht.“
„Willst du behaupten, daß alle Menschen ewig leben?“
„Nein, natürlich nicht. Aber es gibt den Tod nicht als Wesen.“
„Woher weißt du das? Wie oft bist du denn schon gestorben?“
„Das ist doch alles Blödsinn. Verschwinden Sie, sonst rufe ich die Krankenschwester.“
Der Besucher trat aus der dunklen Ecke des Zimmers an das Bett heran. Hermann glaubte, eine eisige Kälte zu spüren. Der Eindringling war in einen schwarzen, fließenden Mantel gekleidet und hatte eine Kapuze auf dem Kopf. Hermann war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er dem Mann ins Gesicht schauen wollte. Er fürchtete, dann einen grinsenden Totenschädel zu erblicken.
„Warum machst du es dir unnötig schwer. Komm einfach mit.“
Eine bleiche Hand streckte sich Hermann entgegen und er wich in die andere Seite seines Bettes zurück, soweit er in seinem gesundheitlichen Zustand dazu überhaupt in der Lage war. Die zahlreichen Schläuche, die an seinem ausgemergelten Körper hingen, behinderten ihn sehr. Entsetzt schaute er jetzt doch ins Gesicht des Besuchers. Da war allerdings kein kahler Schädel, sondern ein blasses Gesicht mit freundlichem Lächeln.
„Und wenn ich gar nicht mitkommen will?“
In Hermanns Stimme schwang etwas Trotz, vor allem aber Unsicherheit mit.
„Schau dich doch mal an. Findest du das, was noch von deinem Leben übriggeblieben ist, so erstrebenswert, daß du daran festhalten willst?“
Hermann sackte förmlich in sich zusammen.
„Wenn ich wenigstens wüßte, was danach kommt ...“
„Du würdest es nicht verstehen, wenn ich es dir jetzt sagte. Glaube mir einfach, daß es dir gefallen wird.“
Der Tod hielt seine Hand auffordernd ausgestreckt. Und Hermann ergriff sie langsam und zögerlich. Er spürte, wie er dabei seinen geschundenen Körper verließ. Die Last der Krankheit fiel von ihm ab. Und er spürte eine starke Euphorie in sich aufsteigen. Das anhaltende Fiepen des Herzmonitors, der plötzlich Alarm schlug, interessierte ihn nicht mehr, als er der schwarzen Gestalt in ein weißes Licht folgte.
© 01/2007 Why-Not
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